Samstag, 8. Dezember 2012

Carl Ferdinand Stelzner: Porträt Harro Harring, Hamburg 1848


Carl Ferdinand Stelzner: Porträt von Harro Harring, Hamburg 1848.
Daguerreotypie, in einem zeitgenössischen samtbezogenen Holzrahmen mit handgefertigtem Passepartout der Buchbinderei May aus Rendsburg.
Provenienz: Flohmark in Kiel; seit Anfang der 1970er Jahre im Besitz von Gerti Fietzek, Kiel/Berlin; seit 2009 Sammlung Heinz-Werner Lawo, Berlin; 2009 versteigert beim Auktionshaus Bassenge, Berlin; Sammlung Dietmar Siegert, München; seit 2014 im Münchner Stadtmuseum durch den Ankauf der Sammlung Dietmar Siegert.

Die Geschichte muss hier einfach mal erscheinen: Als Teenager kaufte Gerti Fietzek mit dem, ihr bis heute eigenen, sicheren Blick für Qualität auf einem Flohmarkt in Kiel "für 'ne Mark oder so" die hier vorgestellte Daguerreotypie. Es ging ihr nicht um das Alter der Fotografie. Weder der Fotograf noch der Dargestellte waren ihr oder dem Verkäufer bekannt und die Rahmung, ohne irgendeine Beschriftung, gab auch keinen Hinweis auf etwas Bedeutendes. 
Was Gerti Fietzek als Teenager an dieser Fotografie faszinierte, waren die schönen Hände des verwegen aussehenden Typs. Markante, kräftige Hände mit schlanken, gepflegten Fingern, die wohl fest zupacken könnten, hier aber sehr eitel und überdeutlich beringt, mit Messer und Pistole eher vorsichtig spielen. Die Linke hält das Heft des langen Messers nicht wirklich in der Hand. Daumen und Zeigefinger vergewissern sich nur, dass es für den Notfall da ist. Eine gewisse Ängstlichkeit oder Unbeholfenheit drückt diese Geste schon aus. Die mit dem Daumen im Gürtel eingehakte rechte Hand dagegen signalisiert: Ich bin bedeutend, ich bin attraktiv, ich habe viele Abenteuer erlebt und wehe dem, der das bezweifelt. Schon klar, dass sich die Fantasien einer jungen Frau daran entzünden können. Ihr Titel für das Bild war denn auch schnell gefunden: Der schöne Pirat. Damit wurde er zum Vorbild für Burt Lancaster in Der rote Korsar und Johnny Depp in Fluch der Karibik.
Jahrzehnte verbrachte Der schöne Pirat in Schubladen und wurde als Schatz gehütet, bis er dann in Form einer kompensierenden Liebesgabe auf mich kam, weil bestimmte Fotografien, entgegen meiner früheren Geringschätzung, doch zu einem zentralen Thema für mich geworden waren, während diese eine Fotografie, unter den vielen sich vermehrenden Büchern bei ihr, zum Solitär verkommen war.

Mit Daguerreotypien hatte ich mich noch nicht beschäftigt. Deshalb machte ich mich zunächst sachkundig, erfuhr von der besonderen Empfindlichkeit der Oberfläche für Berührungen und Umwelteinflüsse und dachte erst einmal nach. Zwei Aspekt waren zu bedenken: Ersten hatte sich die Daguerreotypie gelockert und saß nicht mehr fest im Rahmen. Zweitens war die Rückseite zwar noch original verklebt, aber es waren kleine Risse im Papier an den inneren Rahmenkanten entstanden. Die dauerhafte Sicherung der eingeschlossenen Daguerreotypie stand also gegen die Bewahrung der insgesamt vorgefundenen historischen Substanz. Ich entschied mich für eine Dokumentation der beschädigten Rückseite und öffnete sie dann vorsichtig am Rand der Rahmung.

Im Inneren fand ich dann die eigentliche Überraschung. Zum Schutz der am Passepartout verklebten Daguerreotypie vor dem Kontakt mit den kleinen Nägeln im Rahmen hatte man die ursprüngliche, rückseitige Pappe der ersten Einfassung als Abstandshalter verwendet. Darauf befand sich ein kleiner Aufkleber eines Herrn "May, Buchbinder in Rendsburg" und die Bleistiftbeschriftung "1848 Daguerreotypirt."
Wegen des Kieler Fundorts und der Erwähnung von Rendsburg  schloss ich auf einen norddeutschen Entstehungskontext und über das Revolutionsjahr 1848 auf einen Freiheitskämpfer wie Friedrich Hecker, der den Kalabreser-Hut als Symbol der revolutionären Bewegung etablierte. Es waren dann auch die Stichworte "1848, Freiheitskämpfer, Schleswig-Holstein", die mich über die Bildersucher bei Google zu einer kleinen Abbildung führten, die auf der Webseite der Harro Harring Gesellschaft gezeigt wird. Dabei handelte es sich um eine Radierung, die eindeutig nach der mir vorliegenden Daguerreotypie, oder einer ihr sehr ähnlichen zweiten Fotografie gefertigt wurde. Eine Anfrage beim Präsidenten der Harro Harring Gesellschaft, Herrn Prof. Dr. Ulrich Schulte-Wülwer, lieferte die entgültige Bestätigung. Der "schöne Pirat" war tatsächlich Harro Harring, der im März 1848 in Amerika von den revolutionären Bewegungen in Deutschland erfahren hatte und mit dem Wunsch, sich ihr anzuschließen, im Juni in Hamburg ankam. Herr Schulte-Wülwer bekundete als Direktor des Museumsberg Flensburg sofort sein Interesse an einem Ankauf der Daguerreotypie und schlug vor, zur Ermittlung des Kaufpreises ein kleines Gutachten seitens eines Auktionshauses in Berlin einzuholen. So kam ich in Kontakt mit Frau Jennifer Augustyniak und Herrn Elmar F. Heddergott vom Auktionshaus Bassenge. Dort wurde das Porträt von Harro Harring in einer Größenordnung taxiert, die sich weit jenseits der finanziellen Möglichkeiten der Harro Harring Gesellschaft befand. Herr Heddergott, als Experte für Fotografie des 19. Jahrhunderts, konnte die Fotografie sogar eindeutig dem Hamburger Daguerreotypisten Carl Ferdinand Stelzner zuschreiben

Obwohl sich der "schöne Pirat" damit als ein herausragendes Dokument der Zeit- und Fotografiegeschichte entpuppt hatte, blieb das öffentliche Interesse bei der Auktion beschränkt. Das Handelsblatt berichtete daher auch am 22.12.2009: "Symptomatisch ist der letztlich enttäuschende Zuspruch auf die von Bassenge in Berlin moderat getaxte Porträt-Daguerreotypie, die Carl Ferdinand Stelzner 1848 von dem bewaffneten Berufsrevolutionär und Literaten Harro Harring anfertigte. Dieses Motiv eines Kosmopoliten hätte allein schon aus historischen Gründen über Deutschland hinaus auf Interesse stoßen müssen. Tat es aber nicht, auch nicht bei den Museen. In Erscheinung trat einzig die nordfriesische Harring-Gesellschaft, die den literarischen Nachlass des hartgesottenen Schöngeistes verwaltet. Die aber machte dem am Ende siegreichen Münchener Privatsammler (mutmaßlich Dietmar Siegert) keine ernsthafte Konkurrenz; und so fiel für das monumental inszenierte Bildnis schon bei 19.000 Euro der Hammer (Taxe 15.000)."

Glücklicherweise ist Herr Siegert ein kundiger Sammler, der bereitwillig seine Schätze der Öffentlichkeit präsentiert. Harro Harring war schon in der Ausstellung La Bohème – Die Inszenierung des Künstlers in Fotografien des 19. und 20. Jahrhunderts im Kölner Museum Ludwig zu sehen, und zur Zeit befindet er sich zusammen mit anderen Beständen der Sammlung Siegert in der Ausstellung Deutschland in frühen Photographien 1840-1890 im Münchner Stadtmuseum.

Einen Scan der Daguerreotypie aus meiner fotografischen Dokumentation habe ich digital vorsichtig bearbeitet und weitgehend alle Fehlstellen, Staubkörner und Fussel retuschiert. Es ist ein Versuch, sich der ursprünglich vorhandene Bildinformation zu nähern und damit insgesamt eher eine Bildinterpretation als eine Dokumentation des aktuellen Zustands. Das Motiv erscheint dadurch in einer Klarheit, die das Original nicht bietet. Deshalb zeige ich es hier.
... und natürlich wegen der schönen Hände.


Carl Ferdinand Stelzner: Porträt Harro Harring (digital gereinigt)
    


Freitag, 7. Dezember 2012

Heinrich Holste - Der Schacht

Heinrich Holste: Der Schacht, 1924,
Linoleumschnitt 20,0 x 12,2 cm, Blatt 23,0 x 14,5 cm

Titelillustration der ersten Nummer (Blatt 1) der Zeitschift
DER SCHACHT, Blätter zur Einführung in die Vorträge
und für die Mitteilungen der Allgemeinen Volksbildungs-vereinigung "Feierabend", Werne - Bochum.
Leitung: Fritz Wortelkamp.

Heinrich Holste war der erste Bühnenmaler des Stadttheaters Bochum. Über ihn ist so gut wie nichts bekannt. Wer etwas über ihn oder die Volksbildungsvereinigung "Feierabend", die sich in der Gaststätte "Deutsche Flotte" am Hellweg in Bochum-Werne traf, weiß, möge sich bitte bei mir melden.
Ein kräftiges expressionistisches Blatt, das verblüfft, weil es 1924 in Bochum entstanden ist. In der Nähe zur Formensprache von Ernst Luwig Kirchner, oder auch beeinflusst durch die Bühnendekoration des Cabinet des Dr. Caligari von 1920, wird hier im oberen Abschnitt die durch Zechen und Kokereien geprägte Industrielandschaft des Ruhrgebiets dargestellt. Fabriken, eine Abraumhalde, rauchende Schornsteine, ein Förderrad in der Mitte und Kugel-Gasbehälter oder Kühltürme auf der rechten Seite bestimmen die oberirdische Szenerie. Darunter geht der Schacht in die Tiefe zur schwarzen Kohle. In diesem Schacht kauern die Wohnhäuser aus der Bergarbeitersiedlung. Der Schacht ist der Arbeitsort, der Lebensmittelpunkt und die Identität des Bergmanns, an den sich der Volksbildungsverein "Feierabend" mit seinem Kulturprogramm richtet.